Bericht einer Gedenkstättenfahrt

Zwanzig nach sechs, noch vor dem Klingeln des Weckers wache ich auf. Es ist bereits hell, aber die Welt draußen vor dem Fenster ist grau. Wasser tropft durch die Ritzen der Holzbalken unseres Balkons. Es regnet nicht einfach nur, nein, es gießt in Strömen. Diese trübe düstere Stimmung empfinde ich als passend zu dem, was uns heute erwartet.

Nach dem Frühstück, in der „Old Tree Villa“ in Oświęcim, brechen wir auf. Zwar etwas später als geplant, aber zum Glück sind es nur etwas mehr als vier Kilometer Fahrt. Obendrein ist das „Muzeum Auschwitz“ gut ausgeschildert. Der Parkplatz ist noch ziemlich leer. Möglicherweise schreckt das ausnehmend schlechte Wetter den einen oder anderen Besucher ab. Als wir in Richtung des Eingangsgebäudes laufen, treffen wir dennoch auf diverse Besuchergruppen, die sich vor dem Eingang drängeln. Darunter auch viele Schulklassen aus den unterschiedlichsten Ländern, so dass die Atmosphäre von einem fast babylonischen Sprachgewirr beherrscht wird. Im Gedränge ist es gar nicht so leicht, vorwärts zu kommen. Nachdem wir unsere Tickets vorgezeigt und die Sicherheitsschleuse mit den Metalldetektoren passiert haben, treffen wir die Frau, die uns in den nächsten sechs Stunden durch die Gedenkstätte begleiten wird. Es handelt sich um eine blonde polnische Dame mittleren Alters, die hervorragend Deutsch spricht. Wir laufen an ersten Stacheldrahtzäune und Wachtürmen vorbei, während es aus dem grauen wolkenverhangenen Himmel noch immer in Strömen gießt. Und dann sehen wir plötzlich das Eingangstor mit der hochgeklappten Schranke und dem Schriftzug „Arbeit macht frei“. vor uns. Das Tor, das jede/r von schon x-mal auf Fotos oder im Fernsehen gesehen hat. Das Tor, dessen zynische Überschrift zu den Symbolbildern schlechthin für die Gräueltaten des Nationalsozialismus steht. Jetzt sind wir wirklich an diesem Ort. Es kommt mir unwirklich vor.

Wir befinden uns im Stammlager Auschwitz I, einer ehemaligen polnischen Militärkaserne, die seit 1940 vom NS-Regime als Konzentrationslager genutzt wurde. Bis zu 20.000 Menschen waren hier gleichzeitig inhaftiert: Juden, Sinti und Roma, politische Gefangene, Kriminelle, sogenannte „Asoziale“, Theologen, Zeugen Jehovas, sowjetische Kriegsgefangene. Der Lagerbereich misst in Länge und Breite jeweils nur ein paar hundert Meter und kann in wenigen Minuten durchquert werden. Rund um dieses Lager befanden sich unterschiedliche Industriebetriebe, in denen KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter arbeiten mussten. Drei Kilometer entfernt liegt Auschwitz II (Birkenau), 1941 als Arbeits- und Vernichtungslager errichtet und um ein Vielfaches größer als das Stammlager. Dazu gab es noch zahlreiche kleinere Außenlager.

Wir laufen einen der aufgeweichten Hauptwege entlang, die von noch kahlen Bäumen gesäumt sind. Zu beiden Seiten befinden sich Backsteinhäuser, die so genannten Blocks, von den wir einige besichtigen werden. In diesen Blocks sind verschiedene Ausstellungsräume integriert. In einem Haus sind hauptsächlich Dokumente ausgestellt. In den Vitrinen befinden sich unter anderem Schriftstücke, Kennkarten von Häftlingen, Totenscheine für die Angehörigen mit gefälschten Todesursachen und lange Listen mit den Namen Inhaftierter. Dokumente, die mir noch einmal deutlich vor Augen führen, dass all die Verbrechen weder unbeabsichtigt noch ungeplant vonstattengegangen sind. Hier war eine eiskalte Tötungsmaschinerie am Werk, über die gründlich Buch geführt wurde. Ein penibel durchorganisiertes und protokolliertes Grauen.

In einem anderen Haus bedecken gerahmte Fotos von polnischen Gefangenen – aufgenommen zur Identifizierung nach ihrer Inhaftierung - fast die kompletten Wände des Flurs. Gestreifte Kleidung, kahlrasierte Köpfe, von Qualen gezeichnete Gesichter. Manche blicken voll nackter Angst, andere leer. Komplette Resignation. Oft entdeckt man Hämatome und andere Spuren, die auf Misshandlungen schließen lassen. Unter jedem Foto stehen Name, Geburtsdatum, Beruf, Datum der Inhaftierung und Sterbedatum. Einzelschicksale - hunderte, tausende. Kaum jemand von den Männern und Frauen auf diesen Bildern hat die Hölle von Auschwitz länger als zwei Monate überlebt. Viele waren bereits nach zwei Wochen tot. Gestorben durch Folter, durch Zwangsarbeit, durch Krankheiten oder durch Mangelernährung. Unabhängig von der körperlichen Verfassung musste täglich elf Stunden schwer gearbeitet werden. Diejenigen, die das überlebten, brachten nach ihrer Befreiung noch zwischen 20 und 30 Kilogramm auf die Waage. Erschütternde Fotos demonstrieren den Zustand der Überlebenden.

Es regnet noch immer, als wir das nächste Gebäude betreten. Die meisten Menschen, die hierher kamen, wussten bei ihrer Ankunft noch nicht, dass sie in den Tod geschickt würden. Zum Arbeiten seien sie hier, wurde ihnen erklärt. Man sagte ihnen, dass alle persönlichen Besitztümer während der Zeit ihrer Inhaftierung in den „Kanada“ genannten Magazinen verwahrt würden. Ein Teil dieser Habseligkeiten ist in Vitrinen ausgestellt. Hinter jedem einzelnen steht ein Schicksal, eine Lebensgeschichte. Koffer, die die Besitzer mit Namen und Adresse beschriftet haben, um sie später zurückzuerhalten. Emaillegeschirr – tausende von Töpfen und Teekannen, Schüsselchen mit Rosenmuster oder Tassen mit den Vornamen ihrer Besitzer. Jüdische Gebetstücher. Brillengestelle. Ein unfassbarer Berg von 80.000 Schuhen hinter Glasscheiben. Jeder einzelne davon hat zu einem Menschen gehört, der hier ermordet worden ist. Auf einem Berg von dunklen Halbschuhen und Stiefeln thront ein einzelner roter Damenschuh mit hohem Absatz. Ich muss an meine eigenen roten Pumps daheim denken. Wer war die Frau, der diese Schuhe gehört haben? Zu welchem Anlass hat sie sie getragen? Es ist diese Sammlung persönlicher Gegenstände, die das Grauen ein wenig fassbarer macht, da sie die Schicksale der einzelnen Personen hervorhebt. Dennoch bleibt die Dimension dessen unvorstellbar, was sich hier in den Jahren 1940- 45 ereignet hat. Nahezu anderthalb Millionen Menschen ermordeten die Nazis in Auschwitz. Das entspricht der heutigen Einwohnerzahl einer Großstadt wie München.

Hinter einer meterlangen Glasfront liegt ein Berg von abgeschnittenem Haar. Den Gefangenen wurde bei ihrem Eintreffen im Lager der Kopf geschoren. Außerdem wurden die Leichen derer, die in den Gaskammern gestorben waren, nach ihrem Tod von anderen Häftlingen rasiert. Das Haar wurde gesammelt und an die Industrie weiterverkauft. Das Kilo Menschenhaar zu 50 Pfennig. Stoffe wurden daraus gesponnen. Insgesamt sieben Tonnen menschlicher Haare fand die Rote Armee bei der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor. Auch hier sind es wieder die Details, die mich berühren. Hier, lange weiße Haarsträhnen, die einer älteren Frau gehört haben müssen. Und dort eine weizenblonde, leicht gewellte, Strähne inmitten einem Berg dunkler Haare. Ich muss an die kleinen blonden Mädchen denken, die im Kindergarten so oft mit einem Haargummi in der Hand zu mir kommen, um sich von mir einen Zopf flechten zu lassen. Noch lukrativer war es Goldzähne herauszubrechen und zu verkaufen.

Wir gehen weiter zu Block 11, dem sogenannten Todesblock. Hier befanden sich das Lagergefängnis und das Polizeistandgericht. In oft nur wenige Minuten dauernden Verfahren wurden die Menschen hier zum Tode verurteilt. Im Hof zwischen Block 11 und dem Nachbargebäude wurden tausende Häftlinge an der so genannten „Schwarzen Wand“ erschossen. Im Keller des Gebäudes wurde 1941 auch die erste Massengastötung von Menschen mit Zyklon B durchgeführt. Die Wirkung des Gases erprobten die Henker zunächst an gefangenen sowjetischen Offizieren und an selektierten Kranken.

Auch die Zellen, in denen die Häftlinge des Lagergefängnisses eingesperrt waren, befanden sich im Keller. Wir sehen Stehzellen, in denen bis zu vier Personen auf einer Grundfläche von 90x90cm ganze Nächte stehend verbringen mussten. Und Dunkelzellen, in denen den Gefangenen der Tod durch Ersticken drohte, da frische Luft lediglich durch eine wenige Quadratzentimeter kleine Öffnung hineinkommen konnte. Hier ist die Hungerzelle, in der auch der polnische Priester Maximilian Kolbe starb. Kolbe war mit 14 weiteren Gefangenen im Hungerbunker inhaftiert worden, nachdem er sich im Austausch für einen anderen Häftling dafür angeboten hatte. Nach mehr als zwei Wochen war er noch immer am Leben. Die Nazis töteten ihn durch eine Giftspritze.

Es gibt auch genug Zeit, das Stammlager und die Ausstellungen auf eigene Faust zu erkunden. So betreten wir ein Gebäude, das eine Ausstellung über das Schicksal der jüdischen Opfer beherbergt. In einem großen dunklen Raum werden Fotos und Filmaufnahmen auf die Wände projiziert, die das jüdische Leben in Europa vor dem NS-Terror dokumentieren. Sei es zum Beispiel eine große Familienfeier in Polen 1928, oder der Auftritt eines Kinderchores in der Tschechoslowakei im Frühling 1933. In einem anderen Raum sehen wir das „Buch der Namen“, eine mehrere Meter lange dichte Aneinanderreihung eng bedruckter Blätter, die Namen, Geburtsorte, Geburtsjahre und Sterbeorte auflisten. Millionen Namen, Millionen Schicksale. Menschen voller Gefühle und Erinnerungen, Menschen, die Liebe und Freude, Trauer und Angst empfunden haben – sinnlos ermordet von anderen Menschen. Es ist schlicht nicht zu begreifen.

Das Krematorium und die Gaskammer befinden sich in einem flachen Gebäude, das teilweise in einen grasbewachsenen Erdhügel hineingebaut worden ist. Kahler Betonfußboden, fleckige Wände mit abgeblätterten Farbresten, eine niedrige Decke, an der nackte Glühbirnen ein unwirkliches grelles Licht verbreiten. Noch heute ist hier der Tod gegenwärtig.

Der erste Teil unserer Führung ist beendet. Nun fahren wir mit dem Shuttlebus in das drei Kilometer entfernte Lager Auschwitz-Birkenau, das wie gesagt als Arbeits- und Vernichtungslager errichtet wurde. Von den in Auschwitz Ermordeten starben die meisten hier. 900.000 Menschen hat man gleich nach ihrer Ankunft in den Gaskammern geschickt.

Als wir aus dem Bus aussteigen, stehen wir vor dem Torhaus des Lagers. Das Backsteingebäude, mit dem zentralen Wachturm, zu dem die Bahngleise führen, hat wohl jeder schon einmal auf einem Foto gesehen. In Begleitung unseres Guides steigen wir auf den Turm. Von dort oben haben wir einen guten Überblick über das Gelände und sehen sogleich, dass es wirklich um ein Vielfaches größer ist als das Stammlager. Direkt geradeaus erstrecken sich die Bahngleise und in etwa fünfhundert Metern Entfernung befindet sich die berüchtigte Rampe. In einiger Entfernung erkennen wir die Linie eines Birkenwaldes. Rundherum Stacheldrahtzäune und Baracken. Letztere sind teilweise wieder aufgebaut, von den meisten sind aber nur die Grundmauern erhalten. Nachdem wir zwei Baracken besichtigt haben, gehen wir die Bahngleise entlang. Immer geradeaus, auf die Rampe zu, den Ort, an dem von den Lagerärzten entschieden wurde, wer sofort in die Gaskammer geschickt wurde und wer vorher noch Zwangsarbeit leisten sollte. Alte und Kranke, Schwangere und Kinder wurden gleich nach ihrer Ankunft in den Tod geschickt. Wir unterhalten uns auf dem Weg zur Rampe über die Selektionen. Wir fragen uns, wie ein Mensch, der vielleicht selbst Söhne und Töchter im gleichen Alter hatte, Kinder in die Gaskammer schicken konnte, ohne mit der Wimper zu zucken. An der Rampe steht ein einzelner Eisenbahnwaggon. Einen von der Art, die für die massenhaften Deportationen nach Auschwitz benutzt wurden. Es handelt sich um einen Viehwagen ohne Fenster. Tagelang wurden die Menschen darin kreuz und quer durch Europa gekarrt. Verängstig, dicht gedrängt, schutzlos der Verdreckung und dem Dahinsiechen ausgesetzt. Dieser Ort, an dem über Leben und Tod entschieden wurde, berührt mich zutiefst.

Wir laufen weiter zu einem Denkmal mit mehrsprachigen Gedenksteinen. In unmittelbarer Nähe befinden sich die Ruinen der Gaskammern und Krematorien, die die Nazis kurz vor der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee im Januar 1945 sprengten. Hier lässt uns unser Guide einige Minuten allein. Ich wandere herum, schaue mir die Überreste der Gaskammern und Krematorien an. Auch hier ist der Tod gegenwärtig. Ich sehe mich um. Die Wolken hängen tief, es regnet ununterbrochen und der Wind ist schneidend kalt. Dieser nasskalte graue Tag lässt intensive und bedrückende Bilder in meinem Kopf entstehen. Ich stelle mir vor, wie es an solchen Tagen für diejenigen gewesen sein muss, die hier gefangen waren und arbeiten mussten. In viel zu dünner Kleidung und in kaputten Schuhen. Im Regen und knöcheltief im Schlamm. Krank, ausgelaugt und halb verhungert.

Von der Atmosphäre noch völlig eingenommen, setzen wir unseren Weg fort. Wir wandern durch ein Birkenwäldchen, weiter zur „Zentralen Sauna“, die als „Entwesungs- und Desinfektionsanlage“ für diejenigen Menschen diente, die nicht in die Gaskammern geschickt wurden, sondern als Häftlinge im KZ verbleiben sollten. Hier mussten sich die Gefangenen entkleiden – Frauen unter dem Johlen den anwesenden SS-Männer – und anschließend duschen, ehe ihnen die Haare abrasiert wurden und sie Häftlingskleidung und -Schuhwerk erhielten. Zuletzt wurden die Gefangenen registriert und es wurden ihnen die Häftlingsnummern auf den Unterarm tätowiert.

In der „Zentralen Sauna“ wird eine Ausstellung mit privaten Fotografien der Gefangenen gezeigt, die diese mit ins Lager gebracht hatten und die später dort gefunden wurden. Fotos aus glücklicheren Tagen, mit denen die Inhaftierten versuchten, sich ein paar Erinnerungen an ihre Liebsten und ihr früheres Leben zu bewahren. Es sind sowohl Bilder darunter, die in einem professionellen Fotostudio aufgenommen wurden, als auch private Schnappschüsse. Gruppenfotos von Vereinen oder Schulklassen, Mütter mit neugeborenen Babys, lachende Kinder auf Ausflügen, Familien im Urlaub oder bei Feiern. Die Fotoausstellung ist unsere letzte Station an diesem Tag. Gemeinsam mit unserem Guide wandern wir die schlammigen Wege entlang Richtung Ausgang. Zurück in der „Old Tree Villa“, sprechen wir über die Erlebnisse des Tages und über die Erlebnisse, die uns am meisten beschäftigen, oder uns besonders betroffen machen. Es tut gut, jetzt nicht alleine zu sein.

Am Vormittag des nächsten Tages fahren wir erneut zur KZ-Gedenkstätte, wo jede/r für sich noch die Gelegenheit hat, sich ohne Führung umzuschauen und weitere Ausstellungen zu besuchen. Auf eigene Faust streife ich durch das Lager. Ich betrete die Ausstellung über die Opfer aus der ehemaligen Sowjetunion. Ich sehe Fotos von Inhaftierten, lese ihre Geschichten und sehe den Film, den die russische Armee über die Befreiung von Auschwitz 1945 gedreht hat. Ausgemergelte Gestalten hinter Stacheldrahtzäunen, Leichenberge. In einer Vitrine sind die Zahlenstempel ausgestellt, mit denen den KZ-Häftlingen die Nummern auf die Arme tätowiert wurden.

In der Ausstellung über die ermordeten Sinti und Roma erschreckt mich der Bericht eines Nazi-Offiziers, der in eiskaltem, nüchtern-bürokratischem Ton die Erschießung einer Gruppe von Juden und Roma in Südosteuropa schildert.

Ich sehe mir auch die polnische Ausstellung an. Der Überfall durch Deutschland, die ersten Monate des Krieges. Wie die Bevölkerung im besetzten Polen unter den Nazis zu leiden hatte. Wie Aufständische erschossen und wie Intellektuelle und Geistliche systematisch ermordet wurden. Für die restliche Bevölkerung in Polen – so ein Zitat von Heinrich Himmler – reiche eine vierjährige Volksschule, in der das Schreiben des eigenen Namens, das Zählen bis 500 und der von Gott gewollte absolute Gehorsam den Deutschen gegenüber gelehrt werden solle. Das macht mich ebenso fassungslos, wie die Fotos von Schildern, auf denen verkündet wird: „Spielplatz nur für deutsche Kinder“ oder „Polen ist das Betreten des Sportplatzes bei Strafe verboten“.

Als ich das Gebäude mit der polnischen Ausstellung verlasse, treffe ich einen Teil meiner Mitreisenden wieder und wir sehen uns gemeinsam noch kurz die tschechische und die niederländische Ausstellung an. Allerdings bleibt leider längst nicht mehr die Zeit, alles zu betrachten und durchzulesen. Werde ich noch einmal hierher kommen? Ich weiß es nicht.